Wenn ich meine zweite Identität annehme, muss ich mich umziehen: Ich wechsele die Anzughose gegen eine ausgefranste Jeans und streife ein Che-Guevara-Shirt über: Fertig ist Sören, 32 Jahre alt, Psychologie-Student im 17. Semester, mehrfacher Studiengangwechsler, vor einem Jahrzehnt betroffen von der Diplom-Abschaffung, bis vor einem halben Jahrzehnt gezeichnet von Studiengebühren. Jetzt bin ich gerade vertieft in meine Abschlussarbeit über „Auswirkungen frühkindlichen Obstkonsums auf die Tierliebe auf Auslandsreisen im Erwachsenenalter bis 45 Jahre unter Berücksichtigung auch von Herkunft, Religion und Sternzeichen“. Ich lese das fiktive Thema drei Mal von der Karteikarte ab, schließe die Augen, wiederhole es im Geiste, nicke, hole Deutsch-Drahthaar Moritz und gehe mit ihm los.
Wir gehen zum Tierarzt und der ganze Aufwand soll dazu führen, dass mich dieser für einen armen Studenten hält und mir daher nur den einfachen Satz für seine Arbeit gemäß der Gebührenordnung für Tierärzte (GOT) berechnet – den dreifachen Satz soll er sich für die Ferrari-Fahrer und Tweed-Sacko-Träger aufheben. Die GOT ist ein witziges Buch: Alle Preise wurden hoch seriös mit Hilfe eines Würfels ermittelt: Eine allgemeine Untersuchung mit Beratung kostet beim Hund 12,03 Euro, was teurer ist als beim Rind (11,46 Euro) und billiger als beim Pferd (17,18 Euro). Am besten finde ich aber, dass die Erstuntersuchung von Fischen (13,74 Euro) teurer ist als bei Geflügel (2,87 Euro). Vermutlich ist es kompliziert, den Fisch lebend aus dem Wasser zu holen, ihn lebend wieder rein zu setzen und zwischendurch auch noch zu untersuchen, während bei Hühnern pauschal auf gesund entschieden wird, solange sie noch gackern und picken. Der Materialeinsatz beträgt folglich nur wenige Körner. Ganz taktlos informiert die GOT auch über die Kosten der „Tötung durch Injektion“: Hund und Katze liegen – anders als bei der Untersuchung – mit 17,18 Euro gleichauf, Pferd (82,47 Euro) und Rind (20,05 Euro) sind teurer.
Ich will möglichst wenig zahlen und ziehe die Nummer mit dem Studium daher gnadenlos durch. Ich erscheine an einem Donnerstag erst am Nachmittag, da mittwochs gemeinhin Studentenpartys stattfinden, die auch mich in Anspruch genommen haben, wie eine verspiegelte Sonnenbrille verdeutlichen soll. Als Moritz im Wartezimmer die Aufmerksamkeit einer Hündin erwecken kann und sich die beiden verliebt beschnüffeln, frage ich Frauchen, ob sie auch studiere – die Betonung liegt auf dem „auch“, um es den Tierarzthelferinnen leicht zu machen, die richtige Rechnung zu schreiben. Zur Krönung frage ich die Tierarzthelferin schließlich, ob ich auf dem Tisch mit den Zeitungen wohl „Psychologie heute“ übersehen haben könnte, eine Zeitschrift, die ich meine schon mal hier im Wartezimmer gelesen zu haben und die leider in der Universitätsbibliothek vergriffen war. Ich sage „Universität“ statt „Uni“, weil ich hoffe, mit jeder Silbe meine Chancen auf den Billigtarif steigern zu können.
Die Glaubhaftigkeit meiner studentischen Existenz steigt. Der Tierarzt macht schließlich den Fehler, mich eingehend zu Moritz zu befragen. Ich kann erzählen, dass er dank meiner Studentenexistenz vier Mal pro Tag vor die Tür kommt. Mit diesem Hinweis mache ich die Sache klar: Die Dienstleistungen am „Studentenhund“ werden nur mit dem einfachen Wert berechnet. Jawoll!
Zum Glück arbeite ich nicht an der Tankstelle oder im Supermarkt. Ich hätte Angst, dass sich die Situation umdreht und ich dem Tierarzt mal bei meiner Arbeit begegne. Dann würde die ganze Lügengeschichte in sich zusammenbrechen.
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Ein Gastbeitrag von Sören Emmzwoaka
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