Neulich erschien in meinem Newsfeed ein Artikel, der die Sicht eines Tierarztes auf den größten Fehler in einer ohnehin schweren Stunde aufzeigte: Den Moment, wenn Frauchen oder Herrchen schweren Herzens die Entscheidung treffen müssen, ihren geliebten Kameraden gehen zu lassen.
Abwesenheit bei der Einschläferung – Kein Einzelfall
Ich konnte zunächst nicht ganz glauben, dass sich laut Aussage des Tierarztes 90% der Besitzer dafür entscheiden, beim eigentlichen Vorgang des Einschläferns nicht dabei zu sein und so die Situation für ihren Hund zusätzlich verschlimmern. Natürlich sehnt sich dieser in ungewohnter und möglicherweise bedrohlich wirkender Umgebung nach einem Bezugspunkt und einer vertrauten Person – wenn Herrchen/Frauchen fehlt, bedeutet das für den Hund zusätzlich Stress pur.
Vom komfortablen Platz meines Schreibtisches aus – mit einem zufriedenen, zwar alten aber gesunden Hund neben mir – erscheint mir so ein Verhalten völlig undenkbar: Wie herzlos müsste ich sein, dass ich meine geliebte Fellnase jemals in seinem letzten Augenblicken allein lassen könnte?
Nachvollziehbare Gründe in einer emotionalen Ausnahmesituation
Schiebt man allerdings diese spontane und subjektive Beurteilung beiseite und versucht, die möglichen Gründe für ein derartiges Verhalten der Halter zu erfassen, finden sich schnell einige Beispiele:
- „Ich werde mich sonst immer an seine/ihre traurigen Augen erinnern müssen“
- „Den Moment des letzten Atemzuges werde ich nie vergessen können“
- „Ich will ihn/sie mit seiner/ihrer freudig-lebendigen Art in Erinnerung behalten“
- oder schlicht und ergreifend „Ich kann es nicht“.
Das sind alles Argumente, die auf den ersten Blick völlig plausibel, einleuchtend und vor allem menschlich sind. Hinzukommend befinden sich Herrchen bzw. Frauchen in einer emotionalen Ausnahmesituation, in welcher ein planvolles und vorausschauendes Denken nicht oder allenfalls eingeschränkt zu erwarten ist.
Es ist daher einleuchtend, dass häufig dem Impuls nachgegeben wird, der Frauchen bzw. Herrchen größeres Leid in der konkreten Situation erspart.
Allerdings wird spätestens auf den zweiten Blick und mit meiner persönlichen Erfahrung aus zahlreichen Gesprächen und E-Mailkonversationen deutlich, dass sich diese meist impulsiv getroffene Entscheidung oft rächt:
Während mit der eigenen Abwesenheit beim Einschläferungsvorgang zwar die letzten traurigen und negativen Eindrücke vermieden werden, wachsen typischerweise bereits wenige Stunden oder Tage nach der Einschläferung die Zweifel am eigenen Verhalten:
- „War es richtig ihn/sie allein zu lassen?“
- „Habe ich ihn im Stich gelassen?“
- „War ich feige und egoistisch?“
- „Wäre der Abschied mit mir an seiner/ihrer Seite einfacher für ihn/sie gewesen?“
Das Problem hierbei ist nun, dass derart gelagerte Fragen nicht abschließend beantwortet werden können. Die Beantwortung ist rein hypothetisch und fördert deshalb nie eine „wahre“ Antwort zu Tage.
Die Tatsache, dass derart gelagerte Fragen im Kern immer auf die Beziehung zwischen Mensch und Hund abzielen, hochbewertete Aspekte wie Loyalität, Zuneigung und Verlässlichkeit umfassen, bieten später immensen Zündstoff für schwerwiegende Selbstvorwürfe in Bezug auf die eigene Entscheidung.
Zu allem Überfluss gehen Herrchen und Frauchen meist überdurchschnittlich hart und gnadenlos mit sich ins Gericht und halten die eigene Verhaltensweise im Nachgang für unverzeihlich. So verfangen sie sich in negativen Denkspiralen und ertrinken in Vorwürfen und Gram.
Besser ein tieftrauriger Abschied als endlose und quälende Vorwürfe
Natürlich ist es unfassbar traurig und belastend, seinen Kameraden ein letztes Mal atmen zu sehen, ein letztes Mal durchs warme Fell zu streicheln, einen letzten Blick zu tauschen. All die damit einhergehenden Gedanken, Eindrücke und Erinnerungen können hinsichtlich ihrer Traurigkeit nicht relativiert werden.
Und dennoch sind alle diese schmerzlichen Facetten des letzten Augenblicks oftmals nichts gegenüber der Pein der Vorwürfe, die entsteht, wenn die Befürchtung aufkommt, dass man seinen Freund in seiner dunkelsten Stunde im Stich gelassen hat.
Aus der Erfahrung sollte sich daher jeder Hundebesitzer frühzeitig mit dieser zugebenermaßen unangenehmen und daher gerne verdrängten Frage auseinandersetzen:
„Wie möchte ich den Moment des Abschieds gestalten?“
Überlege in Ruhe, mit Sorgfalt und bedenke die Konsequenzen
Es ist meist zu spät, wenn Du dir diese Frage erst stellst, wenn Du bereits beim Tierarzt bist: Du wirst die Tragweite Deiner Entscheidung in diesem Moment kaum vollumfänglich verstehen und Dir die möglichen Konsequenzen für deinen Seelenfrieden nicht bewusst machen können.
Wenngleich die Frage nach An- bzw. Abwesenheit im Moment der Einschläferung nur individuell zu beantworten ist und frei von jedweder Bewertung durch Dritte zu erfolgen hat, so solltest Du Dir darüber im Klaren sein, dass je nach Entscheidung häufig in der anschließenden Trauerphase Zweifel und Selbstvorwürfe aufkommen, die vielfach mehr Schmerz und Kummer verursachen, als die konkrete Situation des Lebewohl-Sagens.
Nimm diese Frage also nicht auf die leichte Schulter, sondern überlege Dir genau und in Ruhe, mit welchem Verhalten Du wahrscheinlich am ehesten leben können wirst und was Du tun kannst, damit die ohnehin aufkommende Trauer nicht auch noch durch nagende Zweifel an deiner Entscheidung verstärkt wird.
Über den Autor
Markus schreibt auf seiner Website „Lebewohl, Fellnase“ über die vielschichtigen Aspekte der Trauer um Hunde. Er hat sich zum Ziel gesetzt, Menschen mit tröstlichen Impulsen und individuellen Sichtweisen zu helfen und ihnen so in der Phase der Trauer beizustehen.
Bild & Quelle: Engin_Akyurt / Pixabay, creative commons public domain