Neben Zuneigung, Spaziergängen und Nahrung gehört auch ein geschützter Rückzugsort zu den Grundbedürfnissen eines Hundes. Eine Hundehütte aus Stoff, die man im Wohnbereich aufstellt, bedeutet, dass das Tier nicht zwischen Nähe zum Rudel und einem sicheren Ort, der nur ihm gehört, wählen muss.
Kasper Hauser zieht in ein neues Heim
So, nun war die Zeit in der Hundehölle also vorbei. Mehr dazu, wie diese Hölle im Detail aussah, finden Sie HIER. Totale Dunkelheit, Bewegungsunfähigkeit und Isolation waren nun aber getauscht gegen viel Zuneigung, ein eigenes Kissen und einen Platz auf dem Sofa.
Drei Menschen mit Hundeerfahrung, Zeit und Geduld kümmerten sich ab sofort um Jessies Wohlergehen. Ende gut, alles gut. Oder?
Ende besser, noch nicht alles gut
Das trifft es wohl besser. Nicht nur der Mensch ist ein Gewohnheitstier, auch der Hund. Und unser Hund machte da keine Ausnahme. So mies die Welt, die Jessies Vermehrerin für sie geschaffen hatte, gewesen war – es war drei Jahre lang Jessies Alltag, aus dem heraus sie den Maßstab entwickelte, mit dem sie das Leben einzuschätzen gelernt hat.
Die Armut an Sinneseindrücken wurde zur Norm, und so teuflisch dieses Dasein auch war, so prägte es doch Jessies Bewusstsein.
Das, was wir kennen, gibt uns immer auch eine gewisse Sicherheit. Und Jessies neue Welt, eine Welt in Freiheit, barg subjektiv gesehen mehr Gefahren als Sicherheit.
Die Welt aus Kasper Hausers Sicht
Wer jahrelang bewegungsunfähig in Dunkelheit abgeschottet war, erschrickt vor fast allem. Klar, wir blicken mit liebenden Augen auf eine kleine Hundepersönlichkeit und können nichts Schlechtes daran finden. Ich habe mich jedoch oft gefragt, was in Jessie vorgeht. Der Einfachheit halber habe ich die Gedanken, die ich in Jessie vermutete, mal in „Menschensprache“ übersetzt: „Die Menschen, die mich oft liebevoll streicheln und füttern, sind groß. Und sie können sich frei bewegen. Auf mich zu! Werde ich jetzt gestreichelt oder gebissen? Essen steht da in der Schale, aber WESSEN Schale? Kann ich da dran? Oder werde ich da wie früher gebissen? Warum gucken die mich an? Mich hat noch nie jemand so oft angeguckt. Und warum ist hier soviel Platz? Was reden die da? Und es ist so hell. Und jetzt noch heller. Und jetzt wieder dunkel. Lichtpunkte! An der Decke. Aber nur manchmal. Was ist das für ein Geräusch? Und noch eins. Woher kommt das? Was knackt denn da? Was passiert jetzt mit mir? Wo soll ich hin?“
Reizüberflutung
Egal, ob Sie sich entschlossen haben, einen Vermehrerhund, Wühltischwelpen oder Laborbeagle bei sich aufzunehmen, Sie werden lernen: Unsere Welt ist für Ihren neuen Freund unheimlich. Es wird Abend, und Sie schalten das Licht an.
Ihr Hund, der vielleicht jahrelang wortwörtlich in Finsternis gehaust hat, erlebt dabei jedes Mal etwas, das er nicht kennt. Und das ihm Angst macht.
Das Gleiche trifft zu auf das Klicken Ihres Kugelschreibers, den Rasenmäher des Nachbarn, das Geräusch, das Sie beim Gehen machen, das dumpfe Absetzen von Gläsern auf dem Wohnzimmertisch, das Gewitter im Fernsehen, die Lichtspiele, die ein Computerbildschirm im Raum veranstaltet, wenn es abgedunkelt ist. Die tiefstehende Wintersonne wirft durch das Rollo Lichtpunkte an die Decke, das Telefon klingelt, die Waschmaschine rumort, eine Schublade wird zugeschoben. Das Gehirn ausreichend sozialisierter oder erfahrener Hunde hat zu filtern gelernt, regelmäßig wiederkehrende Sinneseindrücke als nicht bedrohliche Routine zu überhören oder zu übersehen wie ein Mensch. Ein Mensch, der lange genug in Bahnhofsnähe gelebt hat, hört auch nicht mehr jeden einzelnen Zug. Geräusche wie das Klicken eines Kugelschreibers oder das Geräusch, wenn man eine Schublade zuschiebt… das taucht in unserem Bewusstsein gar nicht mehr auf. Hunde, die aus extrem schlechter, monotoner Haltung kommen, haben diesen Vorteil nicht. Sie bekommen von ihrem Gehirn jeden einzelnen dieser Eindrücke ins Bewusstsein gerückt, um dann irgendwie entscheiden zu müssen, ob das nun ein Bedrohung ist, etwas Erfreuliches oder ob es gänzlich unwichtig ist. Das überfordert.
Wie sag‘ ich’s meinem Hunde?
Gerne hätten wir uns mit Jessie zu einem klärenden Gespräch zusammengesetzt und bei Kaffee, Kuchen und Hundekeksen über das Leben in einem Menschenhaushalt geredet. Aus offensichtlichen Gründen war dies nicht möglich.
Noch dazu ließen Jessies Ängste unsere Anspannung ebenso steigen, denn auch der Mensch kommt nicht zur Ruhe, wenn der Hund ständig winselt, jankt, zitternd in der Ecke steht und oftmals wie von der Tarantel gestochen einfach aus dem Schlaf heraus vom Schoß springt, weil jemand etwas getrunken hat und sein Glas wieder abstellen wollte.
Was sollten wir also tun? Die Antwort: NICHTS!
Mit gutem Vorbild voran
Ein ängstlicher Hund wird nach dem ersten Schrecken immer gucken, wie der Rest des Rudels reagiert. Was machen Herrchen und Frauchen? Unsere Stimmung und unser Umgang mit den Geschehnissen des Alltags helfen dem Vierbeiner, die Situation einzuschätzen. Das heißt aber nicht, dass es hilfreich ist, auf Reize, die der Hund nicht mehr als bedrohlich wahrnehmen soll, wie zum Beispiel Lichtreflexe an der Zimmerdecke, mit überschwänglich guter Laune zu reagieren. Das Tier kann in dem Moment nicht zwischen positiver und negativer Aufregung unterscheiden. Sie denken: „Meeensch, habe doch keine Angst, komm‘ her und lass Dich knuddeln“. Ihr Hund denkt: „OH MEINE GÜTE, SOGAR FRAUCHEN FLIPPT AUS, IRGENDWAS MUSS ES DOCH MIT DIESEN LICHTPUNKTEN AUF SICH HABEN – PAAAAANIIIIIIIK!!!“. Daher tun wir Menschen, nachdem wir die Grundbedürfnisse unserer vierbeinigen Familienmitglieder abgedeckt haben, ihnen tatsächlich damit den größten Gefallen, dass wir versuchen, gar nichts zu tun. Denn wenn die potentiell lebensbedrohlichen Lichtpunkte wieder an der Decke erscheinen und der Hund dann sieht, dass uns Menschen das aber nun wirklich so GAR nicht interessiert, lernt er jedes Mal, wenn diese Situation auftritt, dass sie vollkommen unbedeutend ist.
Und je öfter das Gehirn vom Hund die Rückmeldung „Alles tutti!“ bekommt, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Angst vor diesem Reiz abgebaut wird oder sogar ganz verschwindet.
Leichter gesagt als getan
Der Prozess des Angstnehmens kostet das, was wir oft nicht im Überfluss haben: Geduld und gute Nerven. Zum Einen kommt man sich wie ein herzloses Monster vor, wenn man das eigene Fellmündel in subjektiv größter Not alleine in der Ecke zittern lässt. Man kann das auch nicht von jetzt auf gleich abstellen. Gerade zu Beginn wird man immer wieder in die Rolle des großen Retters oder der fürsorglichen Hundemutter verfallen. Und den Hund, wenn man sich denn nun selbst beim Verschlimmbessern ertappt hat, dann WIEDER sich selbst zu überlassen, ist fast noch herzzerreißender, als ihn von Anfang an erfolgreich zu ignorieren. Das Kindchenschema und die säuglingsähnlichen Laute, die so ein Vierbeiner von sich gibt, wenn er total verängstigt ist, machen uns das Herz schwer. Die Natur nutzt beide Aspekte beim menschlichen Nachwuchs nämlich schamlos aus, lässt Mütter Bäume ausreißen, um das Wohl des Kindes und damit auch unser Überleben als Spezies zu sichern, wenn wir putzige, hilflose Babys weinen hören. Und plötzlich muss man nun ausgerechnet gegen diesen Lebenserhaltungstrieb ankämpfen, obwohl die Knopfaugen, die allgemeine Knuddeligkeit und das erbarmungswürdige Winseln des Hundes alle Register ziehen. Meine Familie und ich haben das eigentlich nur geschafft, indem wir uns gegenseitig freundlich ermahnt haben, nicht unserem Instinkt zu folgen, und indem wir uns immer wieder vor Augen hielten, dass wir dem Hund schaden, wenn wir ihn zu sehr betüddeln. Kopf vor Herz. Egal, wie schwer es uns fiel.
Cool bleiben, auch wenn’s heiß hergeht
Die andere große Schwierigkeit bestand darin, selbst möglichst gar nicht zu reagieren, zum Beispiel, wenn der Hund zusammenzuckte, während man ihn kraulte und jemand mit einem Kugelschreiber klickte. Wir Menschen reagieren vielleicht nicht auf den Kugelschreiber, aber doch auf das Zucken. Es hat Wochen gedauert, mir abzugewöhnen, zu meinem Hund zu gucken, wenn er zusammenzuckte. Aber wenn ich ihn dann aus den Augenwinkeln heraus ganz vorsichtig angesehen habe, konnte ich erkennen, wie er mich nach dem Zucken sofort anguckte. Das hat mich ermutigt, an der Taktik festzuhalten. Auch wenn es richtig schwierig wurde. Denn wer es schafft, seine eigene Reaktion auf das Verhalten des Hundes soweit herunterzufahren, dass er selbst dann nicht mehr merklich nach Luft schnappt, aufspringt oder schreit, wenn der schlafende Hund ohne jegliche Vorwarnung aus dem Schlaf heraus vom Schoß wegspringt und –rennt, wer es schafft, DANN nicht reflexartig seinen Kopf in Richtung Hund zu drehen um dessen Blick zu treffen, begleitet von einem hörbar erschrockenen Schnaufen, der spielt hier schon in der Oberliga. Und das erfordert einfach viel Übung und Zeit.
Mühsam ernährt sich das Eichhörnchen
Das ist bei dieser Methode, traumatisierten Hunden die Angst abzugewöhnen, das Motto. Das geht weder leicht noch schnell. Aber es lohnt sich. Erste wirklich merkbare Veränderungen haben wir alle nach etwa drei Monaten festgestellt. Zu diesem Zeitpunkt waren wir uns einig, dass der Hund deutlich ruhiger geworden ist, auch in Bezug auf Ängste, die wir das Jahr davor kaum in den Griff bekommen hatten. Das hat uns sogar ermutigt, den Hund verstärkt Reizen auszusetzen.
Angstfrei ist Jessie nicht. Sie wird es wohl auch nie werden. Aber der Grad ihrer Ängstlichkeit beträgt jetzt vielleicht noch 20 Prozent von dem, was da mal war und ihr den Alltag auch im neuen Zuhause oft erschwert hat.
Wir haben versucht, punktuell auch mit klassischer Konditionierung nachzuhelfen. Vor Knistern hat sie seit ihrem ersten Hundeadventskalender keine Angst mehr. Leider kann man aber bei extrem ängstlichen Hunden nicht alles über noch so klein geschnittene Leckerchen trainieren, denn sonst hat man am Ende tatsächlich eine echte KnutschKUGEL. Und selbst der leiseste Klicker hat Jessie mit blankem Entsetzen gefüllt.
Jedem Tierchen sein Plaisirchen
Und jedem Tierchen das persönlich zugeschnittene Erziehungsprogramm:
Was ich hier schreibe, ist ein Erfahrungsbericht mit Dingen, die ich gelernt habe, als wir uns plötzlich als Besitzer eines Häufchens Elend wiederfanden. Es gibt keine Garantie für den Erfolg, wie immer im Leben.
Und ich werde mich hüten, zu behaupten, dass unsere Vorgehensweise jeden Hund von seiner Angst befreit. Aber ich scheue auch nicht davor zurück, jedem Besitzer eines extrem traumatisierten Tieres diese Vorgehensweise ans Herz zu legen. Auch bei Ängsten, für die Sie sich kaum Linderung erhoffen. Auch, wenn es zunächst herzlos erscheint oder Sie nicht sofort Erfolg sehen. Gönnen Sie sich und ihrem Vierbeiner ausreichend Zeit; gehen Sie nicht zu hart mit sich ins Gericht, wenn es nicht immer so klappt, wie Sie es sich vornehmen. Denken Sie nicht, Sie lassen ihren Hund im Stich, wenn Sie ihn „alleine“ lassen. Geben Sie nicht nach, auch wenn er auf Teufel komm raus winselt.
Setzen Sie sich und dem Tier kleine, realistische Ziele. Glauben Sie an sich und an Ihren Hund. Seien Sie sein Fels in der Brandung. Denn genau darum geht es in diesem Artikel.
Ein Gastbeitrag von: Fipstinka Fuchs
Titelbild & Quelle: National Mill Dog Rescue, via Fipstinka Fuchs