Besondere Begegnungen
Kalle ist wirklich kein schwieriger Hund. Schon gar nicht aggressiv oder verhaltensgestört. Er hat bloß etwas sonderpädagogischen Förderungsbedarf. Also eigentlich gar kein Problem.
Die Diagnose: Allgemeine unsicherheitsbedingte Pöbeligkeit bei Begegnungen mit Artgenossen
Der Förderungsplan: Ermöglichung vieler angenehmer Hundebegegnungen. Immer schön positiv bestärken, bloß nicht überfordern. Keine Explosionen dulden.
Die Realität: Ganz anders.
„Würden Sie bitte Ihren Hund anleinen?“
„Keine Angst, der tut nix.“
„Würden Sie ihn bitte trotzdem anleinen? Meiner verträgt sich nicht mit anderen Rüden!“ Mit den meisten Hündinnen auch nicht, aber das tut hier nichts zur Sache.
„Das macht nichts, meiner auch nicht!“
Der Rest bleibt der Fantasie des Lesers überlassen.
Bedenklich
Wenn man sich zwischen zwei raufende Hunde wirft. Sie irgendwie dann auch trennt. Hinterher bemerkt, dass man blutverschmierte Hände hat. Und sich furchtbar erschreckt. Dann feststellt, dass es das eigene Blut ist. Und dann erleichtert ist. Dann wird es doch etwas bedenklich.
Ein Großteil der Hunde, die da draußen herumlaufen, ist nicht zuverlässig abrufbar. Das ist kein Geheimnis. Sätze wie „Der tut nix“ und „Der will nur spielen“ sind Euphemismen für „Der hört nicht“ und „Ich will ihn nicht erziehen“. Ebenfalls nichts Neues. Schon haufenweise Literatur zu diesem Thema gelesen. Warum man diese dummen Klischeesätze zu jeder Gelegenheit herumbrüllen muss, ist mir ein Rätsel. Und warum es anscheinend für so viele nicht zumutbar oder auch nur möglich ist, ihre Hunde mal für zwei Minuten anzuleinen, damit wir unfallfrei passieren können. Und woher die Leute die Dreistigkeit für ihre Kommentare nehmen. Letztere versöhnen mich fast wieder mit dem in den Sand gesetzten Training, das ich dann wieder von vorne beginnen darf. Manchmal ist es wirklich zu komisch.
Am liebsten sind mir die Leute, die, wenn sie dann endlich mal erscheinen, um ihre Hunde einzusammeln, an mir herummäkeln. Weil das alles natürlich nicht ihre Schuld ist. Sondern meine. Weil ich die Leine zu kurz halte. Die Leine zu lang lasse. Meinen Hund überhaupt an der Leine habe. Zu unsicher bin. Zu offensiv bin. Futter in der Tasche habe. Die Liste ist lang. Einer meiner Lieblingssätze stammt von einer Dame, deren aufdringlicher Labrador mir ständig hinterherlief und um meine Schönfütter-Leckerchen bettelte. Nach etwa zehn vergeblichen Komm-Rufen rennt sie (noch immer rufend und mit den Armen wedelnd) auf uns zu. Ich bitte sie, sich ruhig zu verhalten, da mein Hund Angst habe. Die Dame daraufhin vor Überzeugung strotzend: „Mit Leckerchen werden Sie da aber nicht weiterkommen, da müssen Sie einfach kommunizieren!“ Soso.
In solchen Situationen bin ich meinem Hund ein Vorbild. Ich lasse mich nicht provozieren und gehe souverän meiner Wege. Da ich ohnehin nicht mit allzu großer Schlagfertigkeit gesegnet bin, fällt mir das nicht so schwer. Bisher hat es bloß eine Dame geschafft, dass ich gegen diesen Grundsatz verstoße. Sie ist schon etwas älter und kommt mir und meinem angeleinten Hund mit einem großen,
kräftigen Rüden an der Flexi-Leine entgegen. Ich habe Bedenken, ob sie diesen Hund mit so einem Ding halten kann. Die Dame offenbar ebenfalls, denn sie lässt ihn kurz vor unserem Zusammentreffen ohne Absprache frei. Er kommt auf uns zu. Wir versuchen in einem Bogen auszuweichen. Er ändert die Richtung und nähert sich uns in gerader Linie. Wir bleiben stehen, Kalle knurrt. Er läuft unbeirrt weiter. Ich bitte die Dame, ihren Hund zurückzurufen. „Der tut nix.“ Natürlich. „Schön, aber meiner schon. Würden Sie ihn BITTE zurückrufen?“ Da ruft sie ihn halbherzig. Und natürlich erfolglos. Es folgt ein längerer Abschnitt, in dem wir versuchen, einen Abstand zu dem fremden Rüden aufrechtzuerhalten, der uns hartnäckig verfolgt und wiederum von seiner sehr langsamen Besitzerin verfolgt wird. Die dabei unablässig auf mich schimpft. Als sie dann zu vierten Mal erwähnt, dass ich wohl zu unerfahren sei, reicht es mir doch. „Und Sie sind wohl zu alt, um einen Hund zu erziehen!“ Wie gesagt, nicht sehr schlagfertig. Aber wenigstens ist sie dann (von reichlich empörtem Schnauben abgesehen) erstmal still. Nicht dass die Sache mit meiner Unerfahrenheit ganz falsch wäre. (Ich sehe jünger aus, als ich bin – und ich bin noch nicht alt genug, um mich darüber zu freuen!) Aber wäre das nicht erst recht ein Grund, etwas Rücksicht zu nehmen?
Dreist
Wenn man mit zwei angeleinten Hunden Fahrrad fährt. Einem plötzlich ein fremder Hund vors Rad rennt. Man im letzten Moment noch bremsen kann. Hund Nummer eins stattdessen zur Seite springt. Hund Nummer zwei stattdessen knurrend nach vorne schießt. Hund Nummer drei uns kläffend umrundet. Und Herrchen von Hund Nummer drei dem Chaos entspannt zusieht. Und dann fröhlich kommentiert: „Ist halt schon schwierig mit zwei Hunden und Fahrrad!“ Dann finde ich das ganz schön dreist.
Oft finde ich nicht einen Spur von Verständnis vor. Nicht für einen sooo aggressiven Hund. Nicht für ein sooo unfähiges Frauchen. Die finden uns sehr doof. Aber nicht alle. Das Gegenteil gibt es auch. Auf einem Feldweg kommt uns ein Auto entgegen. Ich weiche auf eine angrenzende Wiese aus. Meine beiden freilaufenden Hunde folgen mir unaufgefordert. Hinter dem Auto schießt ein Jack Russel hervor. Der lief direkt dahinter, deshalb habe ich ihn nicht gesehen. Und die Hunde nicht festgehalten. Er hetzt an uns vorbei. Kalle hinterher. Jagt ihn vors Auto. Das Auto bremst. Kalle holt den Jack Russel ein und kegelt ihn um. Der protestiert knurrend. Ich fahre dazwischen. Dränge Kalle ab und erkläre ihm, was ich davon halte, kleinere Terrier zu mobben. Der Jack Russel muss ganz dringend einen Busch beschnuppern. Der Autofahrer und Hundebesitzer lässt die Fensterscheibe herunter. Ich öffne den Mund, um mich zu entschuldigen. Und dann zu verteidigen. Woher hätte ich das auch wissen sollen. Überhaupt, den Hund einfach so hinter dem Auto herrennen zu lassen, das ist doch verantwortungslos. Und so weiter. Doch dazu kommt es nicht. Der Autofahrer würdigt mich keines Blickes, sondern beginnt, meinen Hund zu loben: „Ja das hast du aber toll gemacht, hast du so fein dein Frauchen beschützt, ja so ein feines Hundi. Und so ein Hübscher bist du…“ Den Rest spare ich mir. Kalle und ich tauschen einen langen Blick. Dann gehen wir.
Rüde
Wenn man einfach nur in Ruhe spazieren gehen möchte. Dabei von fremden Rüden belästigt wird. Frauchen wie Rumpelstilzchen um einen herumhüpft. Und den werten Hundehintern verteidigt. Dann endlich der Rüdenbesitzer auftaucht. Und dann fragt: „Ist die läufig?“ Dann darf man schon mal rüde werden.
Mein Hund zieht Sympathien auf sich. Er sieht süß aus. Hat ein liebes Gesicht. Und anscheinend einen für manche Hunde unwiderstehlichen Geruch. Er ist auch sehr lieb. Zu bekannten Hunden und Menschen. Vor fremden Menschen hat er Angst. Fremde Hunde hält er auf Distanz. Das ist nicht seine Schuld. Meine auch nicht. Schuld ist seine versaute Jugendzeit in Rumänien. Keine Erfahrungen mit vielen Dingen, die falschen mit anderen. Einige fragen sich, warum wir solchen Situationen dann
nicht aus dem Weg gehen. Erstens weil es nicht immer möglich ist. Zweitens weil ich gerne üben würde. Ihn positive Erfahrungen machen lassen würde. In denen wir nicht von wohlmeinenden Zwei- oder Vierbeinern bedrängt werden. („Aber der ist doch ganz lieb, das sieht man doch!“) Und nicht von beleidigten beschimpft. („Meiner tut doch nix. Wenn Ihr Hund aggressiv ist, müssen Sie den an die Leine nehmen!“ Er war natürlich an der Leine, aber das nützt nun mal nichts, wenn ein freilaufender Hund in ihn hineinrennt…) Wir sind wirklich dankbar, wenn der Abstand, den er braucht, respektiert wird. Und kontaktfreudige Hunde kurzzeitig angeleint werden. Wenn man einen ruhigen, gut erzogenen und sehr sozialen Hund hat, der deutlich erkennbar (!) Abstand hält, ist das natürlich was anderes. So wie meine elfjährige Hündin, die sich kaum für andere Hunde interessiert und allen Konflikten aus dem Weg geht. Die kann ich auch frei bei Fuß nehmen oder irgendwo sitzen oder stehen lassen. Sie gehorcht dann immer. Bis auf einmal neulich im Wald. Da kommt uns ein angeleinter Hund entgegen. Ich rufe nur schnell „steh“ und wende mich dann dem kleinen Rüpel zu. Als ich wieder hinschaue, rennt sie mit gefletschten Zähnen auf den fremden Hund zu. „MIA-NEIN!!!“ Sie dreht im letzten Moment ab. „Oh nein, tut mir leid! Das macht die sonst nie!“ Ein Rätsel gelöst.
Ein Nachwort an alle rücksichtsvollen Hundebesitzer, die es natürlich auch gibt: Danke an Sie im Namen aller Förderhunde und deren Menschen. Nur dank Menschen wie Ihnen haben wir in unserem Training trotz allem mehr Fortschritte als Rückschritte gemacht!
Ein Gastbeitrag von Nora Weickgenannt
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