„Der Blindenführhund als erweiterndes Wahrnehmungsorgan“ von Kathrin Müller, freundlicherweise für Issn‘ Rüde! zur Verfügung gestellt von Janine Linke vom Grin-Verlag.

Einleitung

Der Blindenführhund erbringt als „lebendes Wahrnehmungsorgan“ eine außerordentliche Leistung: er führt seinen Menschen sicher durch die Öffentlichkeit, verschafft dem Blinden eine neue Mobilität und Lebensqualität und erleichtert ihm dadurch den Umgang mit seiner Behinderung.
Das Ziel meiner Arbeit ist es, zu erläutern, aus welchem Grund sich der Hund besonders dazu eignet, die „Wahrnehmungslücke“, die aufgrund des fehlenden Augenlichts beim blinden Menschen entsteht, zu füllen. Es soll verdeutlicht werden, welch nützliche Hilfe ein Führhund einem Blinden sein kann, da er viele Schwierigkeiten im täglichen Leben eines Blinden vereinfacht oder sogar löst.
Die Grundlage eines gut funktionierenden Führgespanns liegt im Verständnis der besonderen Art der Mensch-Tier-Beziehung, die zwischen dem Hund und „seinem“ Menschen besteht. Daher dient das erste Kapitel dazu, einen kurzen Einblick in diese Form der Beziehung zu vermitteln. Um beurteilen zu können, inwieweit ein Hund einem blinden Menschen als „erweiterndes Wahrnehmungsorgan“ dienen kann, wird anschließend untersucht, wie ein Hund seine Umwelt wahrnimmt und inwieweit sich diese Wahrnehmung von der Welt, wie wir Menschen sie wahrnehmen, unterscheidet.
Da die gesundheitlichen (und auch psychischen) Verhältnisse eines blinden Menschen eine entscheidende Rolle bei der möglichen „Ausstattung“ mit einem Führhund spielen, gehe ich im zweiten Kapitel kurz auf die Definition des Ausdrucks „blind“, sowie auf die Unterschiede, die zwischen Geburtsblinden und Späterblindeten bestehen, ein. Die Ausführungen zur Orientierung und Mobilität des Erblindeten sollen die auftretenden Schwierigkeiten und Probleme, die sich aus seiner Situation ergeben, verständlich machen.
Im dritten Kapitel soll die Darstellung der Ausbildung eines Hundes zum Blindenführhund veranschaulichen, welche Fähigkeiten der Hund zum Zeitpunkt der Übergabe an den Blinden besitzen sollte.
Im abschließenden vierten Kapitel steht die direkte Zusammenarbeit zwischen dem ausgebildeten Führhund und dem blinden Menschen im Mittelpunkt. Es soll deutlich werden, welche Möglichkeiten der Hund dem Menschen bietet und wie sie zusammen als sich ergänzendes Team erfolgreich agieren können.

Im Anhang werden zwei Interviews mit Führhundhaltern aufgeführt, welche praxisnah veranschaulichen sollen, inwieweit ihre Führhunde eine Hilfe für sie darstellen.

1. Die Beziehung zwischen Mensch und Hund

1.1. Die Fähigkeit zur Kooperation – Der Hund als soziales Lebewesen

Die Beziehung zwischen Menschen und Tieren sowie die Stellung des Tieres in der Gesellschaft sind jeher geprägt von der soziokulturellen Entwicklung des Menschen.
Aufgrund der ähnlichen sozialen Organisationsform von Hund und Mensch ist das Zusammenleben beider Arten seit langem bewährt. Das Verhalten von Hunden ist durch die Sozialordnung im Rudel geprägt. In einer Familie oder auch mit nur einem Menschen als Partner ist der Hund prinzipiell eingepasst wie in ein Rudel von Artgenossen. Laut Urd Feddersen-Petersen liegt aber kein echter Zoomorphismus (= Vertierlichung oder, exakter, „Verhundlichung“ des Menschen) vor, Hunde können zwischen Menschen und ihren Artgenossen unterscheiden. Bedingt durch den Prozess der Domestikation (Haustierwerdung) ist der Hund stark an den Menschen gebunden.
Eine überaus wichtige Komponente für eine gute Mensch-Hund-Bindung ist das Fachwissen des Menschen über die Kommunikationsweise und das Sozialverhalten des Hundes. Hunde können die menschliche Sprache nicht erlernen, jedoch sind sie aufgrund ihrer angeborenen, guten Beobachtungsgabe in der Lage, die Ausdrucksmittel des Menschen zu interpretieren. Gelingt es dem Partner Mensch die „Sprache“ des Hundes zu „verstehen“ und zu „sprechen“, steht einer Zusammenarbeit nichts mehr im Wege. Die Sicherheit des Hundes dem Menschen gegenüber steigt und gleichermaßen auch seine Neigung zur Zusammenarbeit. Je schlechter sowohl der Mensch als auch der Hund die jeweils andere Sprache „versteht“, desto größer ist die Möglichkeit von „missverstehen“, was durchaus gefährlich werden könnte.
Zwischen Mensch und Hund besteht ein wechselseitiges Verhältnis, beide Partner beeinflussen sich gegenseitig. Diese Beeinflussung geschieht von Seiten des Menschen meist im Sinne der Befriedigung seiner Bedürfnisse, er setzt den Hund für seine Zwecke ein.

Die Fähigkeit des Hundes sich in eine Gemeinschaft einzuordnen, sein Hang zur Geselligkeit und sein Bindungsvermögen ermöglichen erst die Ausbildung eines Hundes zu einem „Gebrauchshund“.

1.2. Die Wahrnehmungssinne des Hundes (im Vergleich zu denen des Menschen)

Für Hunde und Menschen sind generell die gleichen Reize adäquat. Jedoch liegt die Schwelle, die zur Auslösung eines Reizes überschritten werden muss, bei Hunden oft sehr viel niedriger, was bedeutet, dass diese ein größeres Spektrum an Sinneseindrücken wahrnehmen können. Zudem haben Hunde ein ausgesprochen gutes Orientierungsvermögen, das es ihnen ermöglicht, auch aus größeren Entfernungen ein bestimmtes Ziel zu erreichen – so haben Hunde, die bei einem Ortswechsel zurückgelassen wurden, manchmal den neuen Wohnsitz des Besitzers finden können.
Die Beurteilung der Ausprägung der Sinne bei Mensch und Hund ist immer relativ, denn alle Messgrößen müssen in Hinblick auf ihren Nutzen gesehen werden.
Das Geruchsorgan ist beim Hund weitaus besser ausgeprägt als beim Menschen. Der Hund ist ein erstklassiges „Nasentier“ und der Mensch ein eher mittelmäßiges „Augentier“, was im Vergleich deutlich wird:
1. Der Mensch nimmt seine Umwelt hauptsächlich optisch wahr – der Hund geruchlich.
2. Beim Menschen dominiert das Bildgedächtnis – beim Hund das Geruchsgedächtnis.
3. Der Mensch sieht in seiner „Sichtwelt“ wesentlich weniger als der Hund in seiner „Geruchswelt“.
Mithilfe des ausgeprägten Geruchssinns ist es dem Hund möglich, sich an Orte und Wege zu erinnern. Dadurch kann er z.B. den Befehl „zurück zum Ausgangspunkt“ – „a casa“ ausführen. Dieser Befehl bedeutet, dass der Hund seinen Halter entweder zu dessen Wohnsitz oder zu der Stelle, an der beide ihren Weg begonnen haben, zurückführen soll. Dieses Kommando kann auch eine Art „Notbefehl“ darstellen, wenn seine Anwendung bedeutet, dass der Blinde die Orientierung verloren hat oder es ihm gesundheitlich nicht gut geht.

Auch das Richtungshören ist beim Hund besser ausgeprägt. Für den Blindenführhund ist die akustische Lokalisation von Geräuschquellen von großer Bedeutung. Der Hund kann aus ca. 4-mal größerer Entfernung Geräusche hören als der Mensch.
Obwohl der Hund ein Nasentier ist, orientiert er sich auch mit den Augen. Die Übereinstimmung des optischen Orientierungsverhaltens bei Mensch und Hund ermöglicht also erst den Einsatz des Hundes als Führhund. Viele Teile der „Menschenwelt“ sind der „Hundewelt“ im Prinzip ähnlich. Diese Übereinstimmung zeigt sich auch in der generellen Strukturierung des Raumes. Der Sehraum, der für den Menschen die überragende Bedeutung hat, ähnelt dem Sehraum des Hundes durchaus, wie laut Riederle Untersuchungen an Führhunden bewiesen.
Durch die Blindheit verliert der Mensch den Sehraum, der ihm das Vorausplanen und Ordnen auf weite Sicht ermöglicht und wird auf den Tastraum, eine Entfernung von maximal einem Meter, begrenzt. Aber auch im Tastraum orientiert sich der Mensch, wie auch der Hund, dreidimensional (rechts-links, oben-unten, hinten-vorn). Diese Gliederung beruht auf dem aus drei senkrecht zueinander angeordneten Bogengängen des Gleichgewichtsorgans. Diese dreidimensionale Orientierung ist von großer Bedeutung für die Ausbildung eines Führhundes, denn nur so kann dieser verstehen, welche Objekte für den Menschen Hindernisse darstellen und sie richtig bewerten.

Der Hund besitzt zudem ein größeres Blickfeld als der Mensch. Um ein Objekt im Auge zu behalten, welches sich schräg hinter ihm befindet, braucht er den Kopf kaum zu wenden.

Auf diese Weise kann auch der Blindenführhund das Geschehen hinter seinem Halter gut beobachten und entsprechend reagieren.

[…]

3. Der Blindenführhund

Es existiert im deutschsprachigen Raum eine ganze Reihe von so genannten Service- bzw. Assistenzhunden, zu denen auch der Blindenführhund zählt.

„Assistenzhund“ ist ein Überbegriff für alle eigens ausgebildeten Hunde, die hauptberuflich einem Menschen mit motorischen, sensorischen oder emotionalen Beeinträchtigungen helfen.

Neben dem Blindenführhund kommen andere Assistenzhunde, wie z.B.

  • der Behindertenbegleithund (erledigt Alltagsaufgaben für Körperbehinderte (meist Rollstuhlfahrer),
  • manchmal als Zughund oder Lastenhund eingesetzt),
  • der Signalhund (Meldehund für Gehörlose),
  • der Epilepsiehund (zeigen bevorstehenden epileptischen Anfall an) und
  • der Diabeteshund (zeigt eine bedrohliche Absenkung bzw. Erhöhung des Blutzuckerspiegels an),

bei spezifischen Handicaps zum Einsatz.

3.1. Die Ausbildung eines Blindenführhundes

Der erste Weltkrieg stellt eine einschneidende Veränderung in der Geschichte des Führhundwesens dar, da zu der Zeit die systematische Ausbildung von Hunden als Mobilitätshilfe für Kriegsblinde begann.
Eine allgemeingültige Beschreibung des „Werdegangs“, d.h. Auswahl, Aufzucht und Ausbildung eines Blindenführhundes zu verfassen, ist schwer, da diesbezüglich in den verschiedenen deutschen und ausländischen Führhundschulen sehr unterschiedliche Auffassungen herrschen und teilweise auch konträre Methoden angewendet werden. Es existiert momentan keine vereinheitlichte Standart-Führhundausbildung, die die Methode und das Endergebnis (Anzahl/Art der Kommandos, Anforderungen an das Können der Blindenführhunde) festlegen würde. Daher werde ich in meiner kurzen Ausführung den Werdegang schildern, der in unterschiedlicher Literatur ähnlich dargestellt wird und mir somit am weitesten verbreitet erscheint.
Der Hund durchläuft viele verschiedene Entwicklungsstadien von seiner Geburt bis zur fertigen Ausbildung. Die eigentliche Führhundausbildung beginnt erst nachdem er einen Wesenstest bestanden hat und die Grunderziehung (u. a. Stubenreinheit) beendet ist. Die Erziehung des Hundes basiert auf Worten und Körpersprache (Gesten, Mimik). Diese grundlegenden „Mittel der Ausbildung“ haben für den Hund Signalcharakter, wobei ihm zuvor deren Bedeutung verständlich gemacht werden muss.
Auch über die Art und Anzahl der Kommandos existieren derzeit keine verbindlichen Regeln, sodass auch diesbezüglich jede Führhundschule eigene Entscheidungen trifft.
Eine genaue Auflistung der Hörzeichen ist nur bei Rupp „Der Blindenführhund. Die neue Ausbildungsmethode“ zu finden.

Hierbei handelt es sich um 25 Kommandos in fast ausschließlich italienischer Sprache (welche teilweise bevorzugt wird, da die Befehle besonders kurz und deutlich seien und Abwandlungen vermieden werden)

[Im folgenden die] Reihenfolge, wie sie gelehrt werden […]:

  • Avanti Geradeausführen
  • Brava Lob
  • A Terra Abliegen
  • Ferma Anhalten und ruhig stehen bleiben
  • Vai Weitergehen
  • Tavo Auf den Pflegetisch springen
  • Ritor Rechtskehrtwendung
  • Sed Sitzen
  • Libera Pause und Freizeit
  • Stacca Sich lösen
  • Nein Korrektur
  • Piede Zur linken Seite des Halters sitzen, stehen oder […] folgen, auch bei Richtungsänderung ohne weitere Hörzeichen
  • Posto Den Liegeplatz aufsuchen
  • Resta Warten
  • Apport Tragen eines Gegenstandes
  • Dai Hergeben eines Gegenstandes
  • Destra Vierteldrehung nach rechts
  • Sini Vierteldrehung nach links
  • Passare Überqueren einer Straße nach Entscheiden des Hundes
  • Da Parte Führen auf der rechten Seite bei Straßen ohne Bürgersteig
  • Di Lato Führen auf der linken Seite bei Straßen ohne Bürgersteig
  • Banca Aufsuchen und Anzeigen einer Sitzgelegenheit
  • Porta Aufsuchen einer Tür oder des Einstiegs in ein Verkehrsmittel
  • Billeta Anzeigen des Schalters in Bahnhöfen, auf der Pos usw.
  • Taxi Aufsuchen eines Taxis, Busses oder Bahn
  • Entra Einsteigen in ein Verkehrsmittel
  • Fuori Anzeigen des Ausgangs
  • Scala Aufsuchen einer Treppe
  • Zebra Aufsuchen und Anzeigen eines Zebrastreifens
  • Telefon Hinführen zu einer Telefonzelle
  • Letbox Hinführen zu einem Briefkasten
  • Comod Langsam gehen
  • Tempo Schnell gehen
  • No Verbot (Warnruf)
  • A Casa Führen zum Ausgangspunkt des Weges.

Die Ausbildung beginnt mit 1 bis 1,5 Jahren und dauert zwischen sechs und neun Monaten.

In dieser Zeit lernt er u. a. sich voll auf seinen Führer zu konzentrieren (ohne das sonst übliche Schnuppern oder das Zugehen auf andere Hunde), Hindernissen auszuweichen, und zwar auch solchen, die für ihn keine, jedoch für den Blinden eine Gefahr sind. Er muss lernen Bordsteinkanten anzuzeigen, im Verkehr Gefahren zu vermeiden, auf den Befehl „Banca“ eine leere Bank im Park, im Restaurant einen leeren Stuhl anzuzeigen, und auch, sich falschen Befehlen zu widersetzen. Ein (guter) Führhund beherrscht als „lebendes Wahrnehmungsmittel“ die Fähigkeit der intelligenten Gehorsamsverweigerung. Hält er vor einem Abgrund und bekommt dann den Befehl, weiterzulaufen, muss er diesen verweigern, falls dadurch der Blinde in Gefahr käme. Zum Abschluss findet eine Gespannprüfung statt, in der sichergestellt wird, dass der neue Halter und der ausgebildete Hund genügend aufeinander eingestimmt sind. In der Nachbetreuung können später auftretende Probleme gelöst werden.

Mehr lesen?

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Bild & Quelle: GRIN Verlag, via Janine Linke